5. Die Problematik

5.1 Anfangsschwierigkeiten

Bei der Umsetzung dieser ersten globalen Wahl gibt es zahlreiche technische und konzeptionelle Kritikpunkte. Probleme technischer Art traten bereits in der Registrierphase auf. Die Registrierungen der Wähler wurden von den Servern der ICANN selbst entgegengenommen und verarbeitet. Aber bereits zu Anfang der Registrierungsphase hatte sich herausgestellt, dass die ICANN ihre potentielle Wählerschaft unterschätzt hatte und die Server dem Ansturm nicht gewachsen waren. Aus diesem Grund sahen die Nutzer oft nur Fehlermeldungen anstatt dem Registrierungsformular, die Registrierung war oft nur nach mehreren Anläufen möglich. Obwohl die ICANN auf diesen Zustand hingewiesen wurde, ignorierte sie das Problem. Erst in den letzten Tagen, vor dem Ende der Registrierungsphase, erstellte der deutsche ISP Comlink eine Website, die die Nutzer an den Mehrfachabfragen der ICANN Registrierungsseite vorbei direkt zum Registrierungsformular leitete. Dadurch war zwar das Problem nicht beseitigt, aber der Registrierungsvorgang wurde durch die größere Chance zum Registrierungsformular zu gelangen etwas erleichtert. Diese eigentlich praktikable Maßnahme führte zu Kritik seitens der ICANN (vgl. Ermert 2000c).

Problematisch verlief auch die Anfangsphase des eigentliche Abstimmungsprozesses, für dessen technische Durchführung ja die Firma election.com zuständig war. Zu Anfang der Wahl war es zu massiven Problemen bei der Erreichbarkeit und der Anmeldung gekommen (vgl. Kuri 2000c). Die Wähler bekamen auch hier oft nur Fehlermeldungen zu sehen. Auch die Hotline der Firma war unerreichbar und E-Mails wurden nicht beantwortet (vgl. Schumann 2000).

5.2 Die Informationspolitik

Ein weiteres Versäumnis der ICANN war es, die angesprochene Wählerschaft zunächst über die Struktur der ICANN, die Wahl und dann über die Kandidaten zu informieren. Das Informationsangebot beschränkte sich fast ausschließlich auf die eigene Website und die dazugehörigen Seiten, wie die für die At-Large Gemeinschaft eingerichtete Website und die generischen Kandidatenhomepages mit den Foren. Hintergrundinformationen, z.B. eine Zusammenfassung über die Entscheidungswege in der ICANN oder die Bedeutung und Rolle der At-Large Vertretung in der ICANN sind nur sehr mühsam zu beschaffen.

Die mangelhafte Informationspolitik hatte weitreichende Folgen, denn auch die Offline-Medien der meisten Länder (Deutschland, Japan und China, die Länder in denen es von der ICANN unabhängige Informationskampagnen gab einmal ausgenommen) nahmen kaum Notiz von der Wahl. Daher wusste die Mehrheit der einfachen Internetnutzer gar nichts von der Wahl, viele wussten und wissen auch heute nicht einmal etwas von der Existenz der ICANN. In der Statistik, die die ICANN aus einem für Wähler freiwillig zu beantwortendem Fragebogen erstellt hat, ist die Mehrheit der Wähler durch E-Mails von Bekannten und diversen Websites über die Wahl informiert worden.

Ein Kommunikationsdefizit entstand in der Selbstnominierungs- und dann Wahlkampfphase, dadurch, dass die einzige Möglichkeit etwas näheres, abseits von der von der ICANN für den Kandidaten eingerichteten Standardhomepage, über den potentiellen Kandidaten zu erfahren, darin bestand, entweder ein eigens eingerichtetes Frage-Antwortforum zu besuchen oder, wenn vorhanden, auf dessen private Homepage zu gehen. Direkter Kontakt über E-Mail war hingegen nicht möglich, da die Mitgliedsdaten von der ICANN geheimgehalten wurden (vgl. Ahlert 2000c ; ICANN 2000g).

5.3 Unausgewogenheit der Wählerschaft

Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit den Informationsdefiziten war in Europa auszumachen. Hier dominierten klar die deutschen Wähler. Das hatte den einfachen Grund, dass die Offline-Medien in Deutschland, im Gegensatz zu ihren europäischen Nachbarn, das Thema aufgegriffen und den Nutzern die politische Dimension der Wahl durch ausführliche Berichterstattung vor Augen geführt hatten. In der Frankfurter Allgemeine Zeitung z.B. wurde auf der ersten Seite des Feullitons über potentielle Kandidaten berichtet und die Computerzeitschrift c’t veröffentlichte mehrseitige Interviews mit den potentiellen Kandidaten. Die Akzeptanz wurde in Deutschland weiter durch eine Aufklärungskampagne der Bertelsmann Stiftung und die Initiative „I Can! eLection 2000“, an der sich u.a. Heise Verlag, Spiegel Online, die Süddeutschen Zeitung, Die Zeit und das ZDF beteiligten, gestärkt. Das Engagement war hierzulande sicherlich vorbildlich, das Problem war letztendlich nur, dass dies nicht von der ICANN kam und der Effekt entsprechend national begrenzt blieb, was dann letztendlich zu einem Ungleichgewicht bei der europäischen Wählerschaft führte (vgl. Ahlert 2000c).

5.4 Schwierigkeiten bei den Selbstnominierungen

Des weiteren wurden für die selbstnominierten Kandidaten keine besonders günstigen Startbedingungen geschaffen, sie benötigten u.a. die Unterstützung von mindestens 2% der Wählerschaft ihrer Region, während es für die von der ICANN nominierten Kandidaten überhaupt keine Qualifikationshürden bezüglich der Fähigkeit, die Interessen der Benutzer einer Region zu repräsentieren, gab. Die Auswahlkriterien, die vom MAC vorgeschlagen wurden, orientieren sich vor allem an technischer Kompetenz, ausreichend Freizeit und finanzielle Mittel für die Aufgaben als Direktor. Entsprechend fiel die Wahl des Nominierungsausschusses hauptsächlich auf Kandidaten aus dem kommerziellen Umfeld, einige Kandidaten waren sogar Mitglieder in den Gremien der Unterstützungsorganisationen.

Die Limitierung auf sieben Kandidaten pro Region stellte ein weiteres Hindernis für die selbstnominierten Kandidaten dar, sie konnten nur die Plätze besetzen, die nicht bereits von Kandidaten des Nominierungsausschusses besetzt worden waren, in der Region Europa blieben dabei z.B. nur zwei Plätze für selbstnominierte Kandidaten übrig.

5.5 Das Wahlsystem

Besonders die Auswahl des Wahlsystems, dem Vorzugsvoting-system, lässt sich in Frage stellen. Dieses System, dass in den 1850er Jahren von dem Briten Thomas Hare und dem Dänen Carl George Andrae entwickelt wurde und u.a. in Irland, Malta oder Australien eingesetzt wird, ermöglicht es u.U. einem Kandidaten die Wahl zu gewinnen, ohne dass dieser eine Mehrheit an Stimmen hat. Im Rahmen einer vergleichenden Studie über alternative Wahlsysteme sind die Autoren Steven J. Brams, ein Politologe, der an der New York University lehrt, und Peter C. Fishburne von den Bell Labs bei dem Vorzugsvoting-system zu dem Ergebnis gekommen, dass es grundlegende Aspekte der demokratischen Ethik verletzt, da der Kandidat, der im direkten Vergleich jeden anderen Kandidaten schlagen würde und somit eigentlich der Sieger sei, durch das eigentümliche Umverteilungssystem noch zum Verlierer gemacht werden könnte (vgl. Hack 2000c).

5.6 Fehlende Transparenz

Auch die Transparenz bei Entscheidungen der ICANN lässt zu wünschen übrig. Als Beispiel sei hier die umstrittene Einführung von insgesamt sieben neuen gTLDs genannt, mit der die ICANN der zunehmenden Knappheit von Domainnamen begegnen will. Es ist z.B. absurd, dass die ICANN die gTLD .biz für kommerzielle Anwender einführen will, obwohl diese bereits von .com abgedeckt werden. Es ist zu erwarten ist, dass die Besitzer der .com Adressen sich sich sofort auch eine gleichartige .biz Adresse registrieren werden und man wieder die gleiche Knappheit wie im .com-Raum hat. Auch die Berücksichtigung des Vorschlages .aero für die Luftfahrtindustrie und die gleichzeitige Ablehnung des Vorschlages .bank stellt ebenfalls eine sehr schwer nachvollziehbare Entscheidung dar, da die Branche der Luftfahrtindustrie erheblich kleiner als die der Banken ist.